1. August Rede in Wiesendangen

 

 

Liebe Gäste der heutigen 1. August-Feier 

 

Der 1. August ist auch für mich mit vielen guten Kindheitserinnerungen verbunden. Ich denke da an die vielen Schweizer Fahnen, die überall aufgehängt werden, die Höhenfeuer, die Lampionumzüge und die Feuerwerke. Natürlich gehören auch die Geschichte von Wilhelm Tell, der Bundesbrief und der Schwur der drei Eidgenossen zu unserem Nationalfeiertag. Was wäre aber ein 1. August ohne eine Rede? In diesem Sinne bedanke ich für die Einladung nach Wiesendangen  und freue mich, dass ich als Winterthurer die  heutige 1. August-Rede halten darf.

Bei der Vorbereitung der heutigen Rede habe ich mir überlegt, was die Schweiz ausmacht und was uns von anderen Ländern unterscheidet. Bei Reisen ins Ausland, sei es in den Ferien oder geschäftlich, habe ich erst richtig realisiert, wie einzigartig die Schweiz ist. Worin besteht aber diese Einzigartigkeit und warum ist sie so wertvoll? Sind es unsere schönen Landschaften mit den imposanten Bergen und den vielen Seen, die uns einzigartig machen? Oder sind es die bekannten Produkte wie Käse, Schokolade und Uhren, die auch heute noch  vielen Leuten beim Stichwort Schweiz in den Sinn kommen. Dies ist sicher alles richtig. Ich glaube aber, es sind noch andere Sachen, die die Schweiz einzigartig machen: nämlich Eigenschaften wie Höflichkeit, Toleranz und Zuverlässigkeit sowie unser Verständnis von Demokratie. Diese Eigenschaften werden oft als typisch schweizerisch bezeichnet. Höflichkeit, Toleranz und Zuverlässigkeit haben wir schon als Kinder in der Familie und hoffentlich auch in der Schule gelernt. Es sind Eigenschaften, die unser Zusammenleben angenehmer und einfacher machen.

 

Höflichkeit bedeutet für mich zum Beispiel, dass man den Leuten Gruezi sagt, sei es auf der Strasse oder am Anfang eines Meetings. Höflichkeit bedeutet auch Respekt und Rücksichtnahme. In der Politik ist Höflichkeit ebenfalls ein wichtiger Thema. Politik lebt von der Diskussion und der Auseinandersetzung. Um gute Lösungen muss gerungen werden. Politische Lösungen werden aber nicht besser, wenn man nur noch Schlagworte austauscht oder eine echte Diskussion verweigert, wie es heute leider bei gewissen Themen oft der Fall ist. Leider erlebt man oft, dass  auf den sozialen Medien im Schutz der Anonymität Aussagen oder Kommentare gepostet werden, die jeden Anstand vermissen lassen und so das politische Klima vergiften. Viele politische oder gesellschaftliche Probleme lassen sich meistens besser und oft auch schneller lösen, wenn man sich auf Diskussionen einlässt und verschiedene Meinungen anhört, bevor man eine Entscheidung trifft. Diskussionen sollen und müssen daher engagiert und kontrovers geführt werden, aber immer verbunden mit dem notwendigen Anstand und Respekt.

 

Toleranz ist die zweite Eigenschaft, die die Schweiz und uns Schweizerinnen und Schweizer auszeichnet. Die Schweiz ist ein erfolgreicher Staat mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Religionen. Dies alles funktioniert dank Toleranz und Grosszügigkeit gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden. Die Integration der vielen Zugezogenen in den letzten hundert Jahren hat im Prinzip gut funktioniert. Wir kennen keine Clanstrukturen wie in Deutschland oder rote Zonen wie in Frankreich. Wir akzeptieren andere Menschen und ihre Lebensweise, getreu dem Grundsatz "leben und leben lassen". Toleranz kann jedoch nicht grenzenlos sein. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Lebensformen funktioniert aber nur, wenn alle Einwohnerinnen und Einwohner die grundlegenden Prinzipien von unserer Rechtsordnung akzeptieren und sich mit diesen Werten identifizieren. Eine Gesellschaft muss sich darum auf gemeinsame Regeln einigen, welche von allen eingehalten werden müssen.

 

Ein weiterer Erfolgsfaktor für die Schweiz ist die Zuverlässigkeit. Ob im öffentlichen Verkehr, Berufsleben oder persönlichen Alltag, wir Schweizer legen grossen Wert darauf, Termine und Versprechen einzuhalten. Es ist ja schon angenehm, wenn der Zug oder Bus pünktlich ankommt oder abfährt. Auch Geschäftsbeziehungen sind deutlich effizienter, wenn sich Geschäftspartner gegenseitig vertrauen können und man nicht befürchten muss, dass man über den Tisch gezogen wird. Stellen Sie sich vor, sie kaufen ein Occasionsauto. Gerade hier ist das Vertrauen in die Ehrlichkeit des Verkäufers und seinen Zusicherungen betreffend dem  Zustand von dem  Auto für einen erfolgreichen Kauf wichtig. Wenn man sich nicht auf die Aussagen des Autoverkäufers verlassen kann, würden hohe Zusatzkosten für Expertenüberprüfungen, komplizierte Verträge und Absicherungen notwendig sein. Genauso wie beim Autokauf ist es bei allen anderen Beziehungen wichtig, dass man einander vertrauen kann Ich bin überzeugt, dass Zuverlässigkeit und Vertrauen auch in der Politik nicht nur ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, sondern eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft ist.

Ich bin überrascht gewesen, wie viele Menschen gerade nach der Corona-Pandemie das Vertrauen in den Staat, die Behörden und die Politik verloren haben. Da sehe ich eine Aufgabe der Politik, dieses Vertrauen wieder aufzubauen und die Menschen abzuholen. Die Politik muss Vorlagen nicht nur sorgfältig vorbereiten, sondern besser erklären, Zusammenhänge aufzeigen und die relevanten Fakten auf den Tisch legen. Entscheidungen sollen nicht überstürzt getroffen werden, sondern umfassend diskutiert werden. So kann sichergestellt werden, dass politische Konzepte und Gesetze von möglichst vielen akzeptiert werden und später auch in der Umsetzung weniger Probleme entstehen.

 

Bei Diskussionen über Politik mit Menschen aus anderen Ländern ist mir immer wieder aufgefallen, wie einzigartig unser Verhältnis als Schweizer und Schweizerinnen zum Staat und zur Verwaltung ist. Der Staat ist nicht einfach eine ferne Macht in einer grossen Hauptstadt. Der Staat ist auch nicht einfach eine Obrigkeit, die alles bestimmt und der wir als Bürgerinnen und Bürger gehorchen müssen. Nicht überraschend wird in anderen Gesellschaften und Ländern viel eher als bei uns erwartet, dass der Staat für alle Probleme verantwortlich ist und diese alle lösen kann und muss. In der Schweiz haben wir ein anderes Staatsverständnis. Wir als Gesellschaft bilden den Staat und haben nicht einfach alle Entscheidungen und Verantwortungen an die Politik und Verwaltung delegiert.  Die hohe Bedeutung der Eigenverantwortung gehört zur schweizerischen DNA.

Es ist auch unser Privileg und die Besonderheit unseres Staatssystems, dass wir nicht einfach alle vier Jahre ein Parlament und eine Regierung wählen und dann nichts mehr zu sagen haben. Vielmehr können wir über wichtige oder manchmal auch weniger wichtigen Fragen abstimmen. Wenn ein Gesetz uns nicht passt, können wir das Referendum ergreifen. Oder mit einer Initiative können wir die politische Agenda bestimmen. Diese Möglichkeiten im politischen Prozess mitzumachen, prägen auch uns Schweizerinnen und Schweizer. In vielen Ländern gibt es diese Möglichkeiten nicht und Wahlen sind oft nur Alibiübungen und wer die Regierung kritisiert, wird oft verfolgt.

Damit das schweizerische System auch zukünftig lebt, braucht aber auch das  Interesse und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger an  dem politischen Prozess teilzunehmen und sich auf die politische Diskussionen einzulassen. In diesem Sinne möchte ich  Sie ermuntern: Nehmen Sie sich die Zeit, um die  Abstimmungsvorlagen zu studieren und sich eine eigenständige Meinung zu bilden.

Wir haben auch gelernt, dass erfolgreiche Politik ohne Kompromisse nicht funktioniert. Ein guter Kompromiss besteht übrigens nicht darin, dass man sich in der Mitte trifft oder mehr Geld verteilt. Ein guter Kompromiss ist eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten oder mindestens eine Lösung, die die Anliegen aller Beteiligten angemessen berücksichtigt. Solche Prozesse brauchen Zeit und oft auch Geduld.

Häufig höre ich auch, dass andere Länder mit weniger Mitsprachemöglichkeiten für die Bevölkerung in der heutigen schnelllebigen Zeit erfolgreicher sind.  Kurzfristig betrachtet können autokratische Staatsformen vielleicht erfolgreicher sein, aber langfristig gesehen, glaube ich das definitiv nicht.

Für mich ist die Schweiz eine Erfolgsgeschichte. Es lohnt sich, sich für diese Schweiz einzusetzen und sich in der Gemeinschaft zu engagieren. Die Erfolgsgeschichte Schweiz muss aber weitergeschrieben werden, wir können nicht einfach stehen bleiben und mit dem Erreichten zufrieden sein. Wir müssen gemeinsam die Schweiz des 21. Jahrhunderts gestalten. Die Herausforderungen haben in den letzten Jahren sicher zugenommen. Die Stärke eines Staats und einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie man Herausforderungen meistert und neue tragfähige Lösungen findet.   Dies ist ein Grund, wieso ich mich nun nach Abschluss meiner beruflichen Karriere in einem Industrieunternehmen entschieden habe, vermehrt politisch tätig zu sein und als Kantonsrat zu kandidieren und habe mich über die Wahl gefreut. Die Schweiz und unser einzigartiges politisches System sind mir das Engagement wert.

Ich hoffe natürlich, dass ich den skizzierten Eigenschaften wie Höflichkeit, Toleranz und Zuverlässigkeit selber gerecht werde. Ich freue mich aber auch, wenn Sie, liebe Festgemeinde, diese Werte teilen und sich in der einen oder anderen Form für unsere Gesellschaft und unseren Staat engagieren. Dies muss ja nicht immer ein politisches Amt sein. Zur Besonderheit der Schweiz gehören auch die vielen Vereine, die ohne Freiwilligenarbeit nicht funktionieren würden.

 

Was ich bei meiner Einleitung zur Rede vergessen habe: Zum 1. August gehört je nach Landesgegend auch ein Teller Risotto oder eine Bratwurst sowie ein Glas Wein, und in diesem Sinne freue ich mich, mit Ihnen anstossen zu können.

 

Vielen Dank und einen schönen 1. August!